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Die Vereinigten Migranten von Amerika


Die vier Freunde treffen sich zu einem Spaziergang entlang von einem schönen See. Nach einer Weile schneiden sie das Thema der USA an.

Forscher: Wenn wir über die Vereinigten Staaten von Amerika sprechen, dann sprechen wir im Grunde über ein Land der Migranten. Vielleicht sollten wir es fortan so nennen, also anstatt „United States“, einfach „United Migrants“?

Philosoph: Das ist eine lustige Idee. Ich bin einverstanden. Der Mythos von Einheit ist definitiv stärker ist als der Mythos von Herkunft und hält entsprechend auch die Seelen der Menschen stärker fest. „States“ klingt nach Struktur, nach Ordnung, nach Macht, „Migrants“ dagegen nach Bewegung, nach Bedürftigkeit, nach Sehnsucht. So schufen die Migranten Staaten bzw. Sehnsüchtige gingen in ein Bündnis ein, welches sich in Macht-Strukturen gegossen hat. Das ist die Wurzel des amerikanischen Erfolgs und ein Widerspruch zugleich.

Theist: Es ist auch ein geistlicher Widerspruch. Viele, die nach Amerika ausgewandert sind, flohen vor religiöser Verfolgung. Sie suchten ein gelobtes Land. Und doch verwandelten sie es in ein Land der Versuchung – des Goldes, des Erfolgs, der Selbsterlösung. Ich sehe darin einen neuen Exodus, aber auch ein neues Babylon.

Atheist: Was mich erstaunt, ist, wie religiös Amerika trotz aller Aufklärung geblieben ist. Europa ist skeptischer geworden, die USA nicht. Vielleicht liegt das an dieser migrantischen Sehnsucht. Wer alles zurücklässt, will an etwas glauben. Und wenn der Glaube an Gott fehlt, dann glaubt man eben an sich selbst – den American Dream. Aber auch das ist ein Glaube.

Forscher: Interessant. Der American Dream als säkularisierte Eschatologie – das Paradies am Ende des Fleißes. Aber was passiert mit den Migranten, die es nicht schaffen? Die sich in der Größe Amerikas verlieren?

Philosoph: Sie werden unsichtbar. Ihre Geschichten verschwinden im Schatten der Hochhäuser, der Highways, der Hollywood-Erzählungen. Amerika liebt Sieger. Es gibt den Spruch “Go big or go home”. Doch jeder Migrant ist zunächst ein Verwundeter. So sind sie auch die Vereinigten Verwundeten von Amerika.

Theist: Und vielleicht liegt genau darin die Möglichkeit zur Heilung. Wenn man sich nicht mehr als Herren des Landes versteht, sondern als Gäste auf Gottes Erde. Wenn man sich erinnert: Wir waren alle einmal Fremde. In Ägypten. In Europa. In Amerika. Wir stammen alle von Migranten.

Atheist: Ich stimme dir zu – aber ohne das Gottesbild. Ich denke, es geht um Demut. Um eine Ethik des Ankommens. Wer Migrant ist, ist nie vollständig angekommen – und gerade darin liegt die Wahrheit über den Menschen. Wir sind alle auf Wanderschaft, ob wir wollen oder nicht. Wir sind Lebewesen, die sich über viele Millionen von Jahren im Evolutionsprozess entwickelt und verändert haben und den ganzen Planeten besiedelt haben.

Forscher: Vielleicht sollten wir die Geschichte Amerikas nicht nur als Nationalgeschichte schreiben, sondern als globale Wanderungserzählung. Dann würden wir verstehen: Die Welt ist nicht in Nationen aufgeteilt, sondern in Wege, Spuren, Begegnungen.

Philosoph: „Vereinigte Migranten von Amerika“ – das wäre eine ehrlichere Gründungserzählung. Vielleicht auch eine heilendere. Denn nur wer seine Herkunft nicht vergisst, kann seine Zukunft mit anderen teilen.

Forscher: Apropos Vergessen - was mich fassungslos macht, ist genau die historische Blindheit. Ein Land, das von Migranten aufgebaut wurde, verweigert nun Migranten den Zugang und verbreitet Hass gegen Migranten. Es ist, als würde ein Baum seine eigenen Wurzeln leugnen. Und nicht nur das – viele, die schon da sind, werden nun entwurzelt. Mit Brutalität.

Philosoph: Das ist ein alter Reflex. Wenn ein Imperium spürt, dass seine innere Ordnung zerbricht, wird ein äußerer Feind gesucht. Nach der Sowjetunion kamen die Terroristen und nach den Terroristen sind nun die Migranten der perfekte Sündenbock: sichtbar fremd, oft rechtlos, machtlos. So gingen die Römer vor, als sie den Germanen misstrauten, so gingen die Germanen vor, als sie den Slawen mistrauten, wir kennen dieses Spiel schon... In Rom, in Byzanz, in Wien, in London... ich könnte viele Zentren der Menschheitsgeschichte aufzählen in denen dieses Spiel gespielt wurde – nun spielt man es in Washington. Bei den USA haben wir nur den Paradox, dass ein junger Staat, der so offensichtlich aus Migranten besteht und von Migranten aufgebaut wurde, mangels anderer Feinde nun in neuen Migranten die Sündenböcke sieht.

Theist: Es ist die Angst vor dem Anderen – aber auch vor sich selbst. Denn Migranten erinnern die Sesshaften daran, dass auch sie einst auf der Flucht waren. Vor Hunger, Krieg, Armut. Diese Geschichte haben die neuen Generationen der Amerikaner aber in vielen verdrängt und sie mit dem Sieger Mythos ersetzt - sie sind die stärksten, die besten, die Gewinner. Wer seine eigene Geschichte verdrängt wird oft hart gegenüber denen, die dieselbe Geschichte heute leben. Man empfindet nicht mit ihnen mit. Wie auch? Als Gewinner will man sich nicht mit Verlieren identifizieren.

Atheist: Ich sehe hier vor allem ein psychologisches Phänomen: Die Angst der Mehrheit, zur Minderheit zu werden. Die Identität der weißen, protestantischen Mittelschicht ist in Auflösung begriffen. Da helfen dann keine Argumente mehr – nur noch Mauern, Abschiebungen, Parolen.

Theist: Aber Mauern nützen nichts, wenn ein Imperium in sich selbst zerfällt. Amerika hat seine moralische Erzählung verloren. Einst war es die Hoffnung auf Freiheit. Heute ist es der Kampf um Besitzstand. Wer sich als Besitzer versteht, schützt sein Eigentum. Wer sich als Pilger versteht, teilt sein Brot.

Forscher: Auch wissenschaftlich lässt sich das nachzeichnen: Reiche fallen, wenn sie aufhören zu integrieren. Als China im Mittelalter die Seidenstraße schloss, verlor es seine weltverbindende Kraft. Als das Römische Reich seine Grenzen verriegelte und die "Barbaren" nicht mehr aufnahm, kam der Zerfall. Integration ist kein Luxus, sondern eine Überlebensstrategie.

Theist: Jesus sagte: "Ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen." Das war kein moralisches Gebot allein – es war eine metaphysische Wahrheit. Jeder Fremde ist Christus im Gewand des Anderen. Wer ihn ausweist, weist letztlich Gott selbst ab. Und dabei sind die Amerikaner im Generellen gesprochen ziemlich christlich…

Atheist: Oder, weltlich gesprochen: Wer den Anderen vertreibt, treibt sich selbst in die Einsamkeit. Denn ohne den Blick von außen verkümmert die Seele eines Landes. Aber die Fabriken arbeiten, die Wirtschaft boomt dennoch, die USA wollen Migranten, aber nur die "Guten".

Philosoph: Und darin liegt der moralische Zerfall – wer den Menschen nur nimmt als das was er ist, vergisst seine Fähigkeit sich zu entwickeln. Außerdem gibt es keine Identität ohne Andersheit. Nur im Spiegel des Fremden erkenne ich mich selbst. Wenn Amerika die "schlechten" Fremden verbannt, verbannt es auch seine Selbstwahrnehmung. Das ist der Unterschied zwischen der Führung eines Staates und eines Unternehmens - im Unternehmen wird ein konkreter Zweck verfolgt und entsprechend benötigt man auch Menschen, die bestimmte Arbeiten verrichten können, so kann man und muss man ausgrenzen. Ein Staat jedoch ist das Leben selbst, er kann nur funktionieren, wenn in ihm die gesamte Bandbreite dessen was das Leben ausmacht, zugelassen wird und Grenzen nur dort gezogen werden, wo jemand die Sicherheit anderer in Frage stellt - deshalb haben wir Gefängnisse.

Forscher: Es ist paradox: Je globalisierter die Welt wird, desto stärker werden die Rufe nach Abschottung.

Theist: Vielleicht ist diese Zeit auch eine Prüfung. Ein Ruf zur Umkehr. Denn was hilft es dem Menschen, wenn er die Welt gewinnt, aber seine Seele verliert? Amerika hat viel gewonnen – aber was ist mit den Seelen der Amerikaner?

Atheist: Vielleicht ist das die entscheidende Frage. Nicht nur für Amerika, sondern für uns alle. Was machen wir aus unserer Macht, wenn wir Angst vor Mitmenschlichkeit haben? Vielleicht ist es eine Angst vor dem Bösen, weil wir uns dermaßen schon als Gut empfinden und wahrnehmen, dass wir auf andere dann nur unsere Schattenanteile, also unsere Bosheit, projizieren können?

Philosoph: Vielleicht stehen wir vor der Entscheidung, ob wir ein neues Kapitel der Menschheit aufschlagen – oder das letzte Kapitel der Imperien wiederholen. Ich fühle mich jedenfalls als Kosmopolite unglücklich, denn ich bin ein Erdenbürger ohne Staat. Wenn ein Weltstaat Realität geworden ist, werde ich Erdenbürger sein können. Und wisst ihr was noch?

Forscher: Natürlich. Im Weltstaat wird es keine Grenzen geben und damit keine Migranten - jeder wird überall Mensch und Bürger und damit zu Hause sein. Der Planet als das Zuhause, ja ich sehne mich auch nach der Zukunft in der alle Menschen der Welt beginnen sich so zu fühlen.

Die Freunde lachen, sprechen noch eine Weile über Privates und begrüßen sich.