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Seelentunnel


Ach, die Liebe – eine der undankbarsten Angelegenheiten des Lebens. So häufig, wenn wir jemandem unsere Zuneigung schenken, deuten sie sie nicht als freies Geschenk, sondern als Eroberung, als ihren eigenen Erfolg, als eine feinsinnige Form der Herrschaft über uns. Wir übergeben uns jenen, die von uns nehmen, oder wir entreißen jenen, die sich uns hingeben. In diesem Tanz empfinden wir Freude, sei es im Geben oder im Nehmen, überzeugt, dass unsere Liebe von jener Person erwidert wird, von der wir nehmen oder der wir uns ergeben. Doch leider zerbricht diese Täuschung allzu oft. Wenn der Nehmer satt wird oder der Geber plötzlich innehält, dämmert eine harte Erkenntnis: Wir werden nicht mehr benötigt. Unsere Gaben – ob großzügig oder habsüchtig – verlieren ihren Glanz, und schlimmer noch: Unsere Liebe selbst erweist sich als überflüssig. Diese Einsicht kann zutiefst quälend sein; für manche unüberwindbar. Sie taumeln in der Desillusionierung, pflegen tiefe Wunden und verlieren den Halt in der Welt. Sie beginnen zu bezweifeln, dass es je Liebe gewesen sein konnte – wäre es so, hätte es nicht derart geendet. Andere verhärten sich im Groll, schwören, nie wieder zu lieben, um solch ein Leid nicht erneut zu erleiden. Die Reaktionen sind vielfältig, selbstverständlich: Manche, mit philosophischer Gelassenheit, erkennen den Betrug an, heben ein Glas Wein oder ein Bier (vielleicht mehr als eines), vergießen eine stille Träne und schreiten voran. Doch die Wahrheit ist, wie immer, nuancierter. Weder reines Geben noch reines Nehmen nährt uns; wir sollten Beziehungen meiden, die ausschließlich auf einem davon beruhen. Solche eindimensionalen Verbindungen sind von Grund auf brüchig, und wer – sei es der Geber oder der Nehmer – sie für Liebe hält, ist dem Desillusionierungs-Schicksal geweiht. Denn das Nehmen von einem anderen kann ebenso berauschend wirken wie das Geben, beides verkleidet als Hingabe. Sogar jene, die nach der „wahren Liebe“ streben – vorgestellt als zweispurige Straße, reich an unzähligen Dimensionen des gegenseitigen Austauschs –, stolpern oft. Hier wird Liebe als ausbalancierte Bilanz erdacht: vorteilhaft für beide Seiten, wobei in einer Sphäre der eine mehr gibt und weniger nimmt, in einer anderen umgekehrt. Wenn das Gesamte im Gleichgewicht ruht und beide reichlich geben und empfangen können, hält der Bund, erfüllt seine Beteiligten. Dies, so glaubt man, ist die echte Liebe. In der Theorie klingt es erhaben; in der Praxis verharren wir in einer einzigen Dimension, gefangen in einem Tunnel, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Alles verblasst zum Einheitsgrau, und die Beziehung bricht unter diesem engen Zwang ein. Denn der menschliche Geist, biologisch bedingt, vermag nicht, mehrere Dimensionen zugleich zu bewältigen; wir durchmessen sie nacheinander. Jede ist ein eigenständiges neuronales Netz, das an Kraft gewinnt, wenn es sich mit einem verwandten in einer anderen Seele verknüpft. Diese Verschmelzung ist ein Wunder – rasch dehnt sie sich auf andere Netze, andere Reiche aus. Darum sagen wir, Menschen verbinden sich durch geteilte Eitelkeiten, gemeinsame Plagen oder ertragene Leiden: Sie begegnen sich in eben jenen Tunneln, die sie fesseln. Die seltene Seele, die diese Muster durchschaut, die sich und andere so sehr liebt, dass sie sie aus den Tiefen führt – dies ist die Verkörperung wahrer Liebe. Sie erfordert Bewusstsein der Gefangenschaft eines anderen und die Bereitschaft, ihn herauszuführen. Doch ein solcher Liebender kann nie jene gefeierte „wahre Liebe“ mit anderen teilen, denn sie verweigert das gemeinsame Verweilen in der Finsternis. Stattdessen strebt sie das Gleichgewicht in allen Dimensionen an, eine Harmonie, in der kein Band einseitig ist. Im Tunnel herrscht Ungleichgewicht: Es gibt den Führer, der zum Licht weist, und den Verirrten, der ihm folgt. Für den Nachfolgenden wirkt es nicht wie ein Gang, sondern wie eine endlose Höhle ohne Ausgang. Nur wer daraus entkommen ist, erkennt ihre Form und reicht die Hand. Sobald jedoch das Licht durchbricht, sobald der Tunnel verlassen ist, erlischt die Rolle des Führers – und die Menschheit, in ihrer Undankbarkeit, wendet sich ab. In vergangenen Zeiten webten unsere Vorfahren aus unseren verwickeltsten neuronalen Geweben – den längsten Tunneln – von Göttlichem, Liebe, Lebenssinn oder der Führung der Massen große Erzählungen, Organisationen und Institutionen. Manche nannten sie „Philosophien“, viele überdauern bis heute. Ich sehe sie anders; für mich ist Philosophie einzig: die umfassende Erzählung, die zu einem ausgeglichenen Leben und erfüllenden Beziehungen zu unseren Nächsten führt. Der Tod lauert am Ende jeden Lebens, und was danach kommt, ist das große Rätsel – niemand von uns kennt die Lösung, und wir sollten nicht eilen, sie zu ergründen. Eines Tages, wenn wir die Augen schließen, wird sie sich enthüllen. Für mich liegt das Wesen der Liebe in dieser Welt und diesem Leben im Gleichgewicht der Beziehungen. Ich gestehe: Ich verweilte lange in manchen Tunneln (wie wir alle müssen, unausweichlich), und sogar in denen anderer, die ich zu befreien suchte, bis ich meinen Halt fand und eine harte Wahrheit begriff – wir können nicht jeden aus jedem Abgrund retten. Manche müssen sich allein durchschlagen, oder eben nicht. Es mögen kürzere, weniger schmerzhafte Wege geben, doch rückblickend würde ich meinen nicht ändern. Heute quillt mein inneres und äußeres Leben vor Reichtum und Gelassenheit über; ich kann mir kein anderes Dasein vorstellen, noch wünsche ich es. Ich verfasse hin und wieder Texte, tauche in schöpferische Projekte ein, schätze meine Nächsten und, wenn ich jemanden in einem Tunnel stecken sehe, gebe ich einen sanften Anstoß – oder, sofern Zeit bleibt, ein philosophisches Gespräch. Wann immer mich die politische Lage beunruhigt, knüpfe ich Fäden zu jenen im Getümmel, erkenne ihre Tunnel, drücke hier und da ein wenig nach und ziehe mich zurück in meine friedlichen Genüsse. Je mehr ihr eure Nächsten liebt, je ausgeglichener eure Bande werden, desto größer eure Seligkeit – denn Stabilität in Beziehungen schafft einen wachsenden Kreis von Seelen, mit denen ihr über immer mehr Themen plaudern könnt. Die Dualität des Lebens – inner und äußer – erblüht zum Paradies, zum Reich Gottes, wie Christus es nannte. Ich deute es so und erblicke es hier und jetzt, erreichbar für uns alle. Sokrates hatte es vor Ihm erahnt, weshalb manche ihn einen vorchristlichen christlichen Denker schimpften. Vor dem Tod war Sokrates überzeugt, dass das Leben weitergehe; Christus sprach es aus, ebenso unzählige andere seither. Trotz all dem, was ich von Neuro-Wissenschaftlern lernte, werde auch ich zunehmend gewiss: In einer Form setzt sich das Leben fort.